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Das Expertendilemma

Viele Debatten werden mit widersprüchlichen Gutachten geführt. Was folgt daraus für Wissenschaft und Politik? / von Ulrich Schnabel

Gefahr droht überall. Ein auffallender schöner Sommertag - sind das schon die Auswirkungen des Treibhauseffekts? Ein Sonderangebot für Rindersteaks - steckt darin der Erreger der Rinderseuche BSE? Computer und Roboter werden immer leistungsfähiger - machen sie die Menschheit in Zukunft überflüssig? Guter Rat ist teuer, und in der Not schlägt die Stunde der Wissenschaftler. Glaubwürdige Persönlichkeiten sind gefragt, die mit unbestreitbaren Fakten die Dinge ins rechte Licht rücken. Fragt sich nur: Wo findet man sie?

Die Hoffnung auf die Überzeugungskraft des wissenschaftlichen Sachverstands jedenfalls erweist sich oft als trügerisch. Denn zu jeder Expertenmeinung findet sich fast postwendend eine fachkundige Gegenstimme. Klimatheoretiker prognostizieren, die Überhitzung des Globus sei unaufhaltsam. Keinesfalls, antworten Paläoklimatologen, eher drohe eine neue Eiszeit. Für britische Forscher ist die Gefahr der Rinderseuche BSE gebannt. Doch ihre französischen Kollegen schließen aus denselben Daten das Gegenteil. Während die Wissenschaft noch streitet, diagnostiziert die Philosphie bereits das "Expertendilemma". Man finde mittlerweile fast für jede Ansicht ebenso viele Experten, die sie bestätigen, wie solche, die sie widerlegen, klagt der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstraß.

Zwar ist die Tatsache, dass Forscher miteinander streiten, so alt wie die Wissenschaft selbst. Doch in hoch technisierten Gesellschaften hat sie lähmende Auswirkungen. Allzu viele Entscheidungen sind dringend auf wissenschaftliche Urteilskraft angewiesen. In den Vereinigten Staaten enthält beispielsweise schon jedes zweite Gesetz, das dem Kongress zur Verabschiedung vorgelegt wird, einen starken wissenschaftlichen Anteil, der die Kompetenzen der Abgeordneten oft übersteigt.

Doch die Rolle der Wissenschaftler hat sich gewandelt. Der Nimbus ihrer unvoreingenommen Objektivität ist dahin, an den Mythos der reinen, interesselosen Wahrheitssuche glauben heute nicht einmal Erstsemester. "Wissenschaftler sind keine Priester mehr", sagt der englische Forschungsmanager Richard J. Brook. "Die Gesellschaft fragt respektloser und lauter: Welche Wissenschaft wollen wir?"

Drei Entwicklungen lassen diese Fragen immer drängender erscheinen:

- Politische Konflikte werden zunehmend mit wissenschaftlichen Argumenten ausgefochten. Das gilt für den BSE-Streit wie für die Debatte zwischen Europa und den USA um die Einfuhr von "Hormonfleisch". Jüngstes Beispiel aus Deutschland ist die Auseinandersetzung um die grüne Gentechnik. Dabei stellt sich das Bundesgesundheitsminesterium sogar seinen eigenen Experten entgegen. Wer also definiert den Stand der Wissenschaft?

- Die Verflechtungen zwischen akademischer Forschung und privaten Unternehmen nehmen drastisch zu. Vor allem in der Bio- und Gentechnik halten inzwischen auch staatlich finanzierte Wissenschaftler Patente auf ihre Entdeckungen und haben damit ein starkes Interesse an deren Vermarktung. Unter solchen Umständen sind unabhängige Experten so rar wie selbstlose Versicherungsvertreter.

- Außerdem entdecken auch die Forscher zunehmend die Medien als Mittel der Selbstdarstellung. Je nach gewählter Bühner kann die Botschaft dabei gewaltig variieren.

Das zeigt das Beispiel des "Cybervisionärs" Bill Joy (Sun Microsystems). Auf zwei langen Feuilletonseiten transportierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung vergange Woche Joys apokalyptische These von der Machtübernahme der Roboter. "Wir stehen an der Schwelle zu einer weiteren Perfektion des Bösen in seinen extremsten Ausprägungen", orakelte er. Wenige Tage später sprach der Computerexperte auf einer Konferenz vor mehreren tausend Softwareentwicklern. Von Apokalypse keine Spur mehr, dem jubelnden Publikum stellte Bill Joy "enorme Geschäftsmöglichkeiten" in Aussicht.

Auf wessen Urteil also kann man bauen, wenn sogar ein und derselbe Kronzeuge scheinbar widersprüchliche Positionen vertritt? Und - beinahe noch wichtiger - wie stellt man sicher, dass Entscheidungen in komplexen wissenschaftlichen Bereichen auch eine breite öffentliche Zustimmung finden?

Am wenigsten Eigeninteresse haben ausgerechnet die Laien

Einige Länder haben sich schon länger auf die Suche nach neuen Formen des Umgangs mit komplexen wissenschaftlichen Fragen gemacht. Dabei fällt ausgerechnet den sonst eher stiefmütterlich behandelten Laien eine wichtige Rolle zu. Denn im Gegensatz zu Politikern, Industrievertretern oder einzelnen Forschern ziehen die Laien meist keinen direkten Nutzen aus der jeweiligen Entscheidung. Dafür müssen sie selbst mit deren Auswirkungen leben. Das dänische Board of Technology organisiert seit Jahren "Konsenskonferenzen", in denen eine Laienkommission sich vier Tage lang mit einem strittigen Thema beschäftigt und alle Experten dazu befragen kann, die es sich wünscht. Der daraus entstehende Bericht repräsentiert die öffentlich Meinung, wird im Internet publiziert und hilft der Politik bei der Entscheidungsfindung. Auch amerikanische Institutionen wie die National Institutes of Health proben öffentliche Anhörungen und machen zunehmend Informationen im Internet zugänglich. Und in der basisdemokratischen Schweiz fand vor zwei Jahren gar - nach heftiger Debatte - eine Volksabstimmung über den künftigen Umgang mit der Gentechnik statt.

Vielen Forschern sind solche Aktivitäten ein Gräuel. Schließlich seien wissenschaftliche Probleme viel zu komplex, um von Laien beurteilt zu werden. Doch alle Erfahrungen zeigten, bemerkte kürzlich das Fachblatt Nature, dass das Publikum im Allgemeinen keine Schwierigkeiten habe, die wesentlichen Argumente zu verstehen und überzogene wissenschaftliche Rehtorik zu durchschauen. Zwar resultiert aus solchen Experimenten nicht notgedrungen eine größere Akzeptanz einzelner Forshcungsentwicklungen. Aber das Vertrauen der Öffentlichkeit in die wissenschaftspolitische Entscheidungsfindung wächst.

Das wäre gerade in Deutschland wichtig, wo Debatten oft mit unversöhnlichem weltanschaulichen Fundamentalismus ausgetragen werden. Kürzlich wagte Bundesgesundheitsministerin Fischer einen ersten Versuch in dieser Richtung. Statt zum heiklen Thema Fortpflanzungsmedizin nur eine Enquete-Kommission einzuberufen, organisierte sie ein dreitägiges Diskussionsforum, auf dem 600 Vertreter der unterschiedlichsten Disziplinen und Betroffene sich über ihre Standpunkte stritten - und nach einem Konsens suchten.

Auch Forschungsminsterin Edelgard Buhlman und alle großen Forschungsorganisationen haben sich den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit auf die Fahne geschrieben. Noch ist dies eher ein Monolog, der sich meist in harmlosen Wissenschaftsshows erschöpft. Gefragt ist jedoch inicht mehr Selbstdarstellung, sondern mehr Mut zur öffentlichen Streitkultur. Will die Wissenschaft weiter glaubwürdig bleiben, muss sie sich auch hierzulande öffnen.

DIE ZEIT

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