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Ich habe einen Traum

Von Marc Kayser (Aufzeichnung)

Sahra Wagenknecht, 31, studierte in Jena, Berlin und Groningen Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Sie trat 1989 der SED bei und ist heute Mitglied der Kommunistischen Plattform der PDS. Zur Zeit dissertiert sie über die ökonomische Lehre von Karl Marx. Wagenknecht träumt von einer Begegnung mit einem Zeitreisenden




Er kam aus einer anderen Zeit und schüttelte sich vor Unbehagen,
weil er im Konzert saß und die Musiker Beethovens Neunte spielten,
als seien sie vor dem Komponisten auf der Flucht. »Sie spielen zu
schnell«, sagte er, zu mir gewandt. Er sah auf eine so
außergewöhnliche Weise gut aus, dass ich unwillkürlich an eine
klassische griechische Statue denken musste. Ich stellte mich vor.
Er sagte, dass er im Jahre 2169 geboren und auf Studienreise in
unserer Zeit sei. »Aha«, sagte ich sprachlos. »Wissen Sie«,
ergänzte ich nach zwei Schrecksekunden, »dass sie genau
zweihundert Jahre nach mir geboren sind?«

Er war Geschichtsstudent und als einer der ersten Menschen in den
Genuss einer sensationellen Neuentdeckung gekommen: der
Möglichkeit, die Vergangenheit zu besichtigen. »Ich habe mir das
Jahr 2000 ausgesucht, weil ich die seltsamen Jahrzehnte vor und
nach diesem Datum in meinen Vorlesungen nie verstanden habe.« -
»Aha«, sagte ich nochmals und mühte mich um Fassung. »Erzählen
Sie mir etwas über Ihre Zeit«, bat ich aufgeregt. »Gern«, antwortete
er. »Aber lassen Sie uns woanders hingehen. Ich weiß jetzt, was
unser Dozent für Kulturgeschichte mit seiner These meinte, dass ein
ganzes Jahrhundert Beethoven nicht spielen konnte.« Sein schönes
Gesicht verzog sich, als litte er unter akutem Zahnschmerz. Also
verließen wir eilig das Konzerthaus und setzten uns in ein Café.



»Ist das Ihre erste Reise in die Geschichte?«, fragte ich ihn. »Meine
erste und einzige, und heute ist mein letzter Tag«, antwortete er.
»Warum ausgerechnet unsere Zeit?«, erkundigte ich mich, »Cäsar
hätte Sie nicht interessiert?« - »Oh doch«, sagte er. »Aber Cäsar
konnte ich begreifen. Außerdem haben uns die Römer vieles
hinterlassen: Torbögen, Brücken, Skulpturen, philosophische
Thesen. Da konnte man sich ein Bild machen. Aus dem zwanzigsten
Jahrhundert ist fast nichts übrig geblieben: kein Haus, keine Vase,
keine Philosophie, dafür aber eindrucksvolle technische Erfindungen,
die auch wir noch nutzen. Aber offenbar wisst ihr nichts damit
anzufangen. Was ihr produziert, produziert ihr so, dass es schnell
wieder zerfällt. In euren wirtschaftlichen Entscheidungen lasst ihr
euch von Zufallsfolgen sinnloser Zahlen leiten wie die alten Griechen
vom Orakel. Ihr baut uniforme, stupide Städte, die noch hässlicher
sind, als ich sie mir nach Bildern vorgestellt hatte. Wussten Sie
eigentlich, dass der düstere Koloss, den Ihre Regierung gerade als
Kanzleramtssitz bauen lässt, später als Gefängnis genutzt wurde?«
Ich war ganz schön sprachlos. »Und sieht er nicht ganz so aus, als
habe der Architekt das von vornherein im Auge gehabt?«, schob er
unerbittlich nach.



»Wie sehen denn die Städte bei Ihnen aus?«, unterbrach ich seinen
wenig schmeichelhaften Redefluss. »Unsere Städte sind keine
bombastischen Metropolen«, antwortete er. »Viele Siedlungen
bestimmen einen großen Raum. Ein Haus sieht natürlich anders aus
als jedes andere, denn es wohnen ja in jedem Haus andere
Menschen mit anderen Wünschen, Vorlieben und Eigenarten. Bevor
ein Haus gebaut wird, setzen sich die Leute, die einziehen wollen,
zusammen und entwerfen gemeinsam mit einem Architekten einen
Bauplan.« - »Ein individuell gestaltetes Haus, kann sich das denn
jeder leisten?«, fragte ich ungläubig. »Wieso leisten?«, entgegnete
er, »wir haben doch Zeit.«

»Ich meine nicht zeitlich, ich meine finanziell«, erläuterte ich. »Da
seid ihr wieder mit eurer Irrationalität!«, rief er brüsk. »Was ist denn
Geld anderes als der Widerschein des mit bestimmtem Zeitaufwand
Produzierbaren? Hohe Produktivität enthebt uns der leidigen Frage,
entweder für wenige Leute wenige Dinge in guter Qualität oder für
viele Leute viel normierten, naturunverträglichen Billigkram zu
produzieren. Weshalb ihr das nicht begreifen wolltet, sondern
fortfuhrt, die Welt zu vermüllen, auch als ihr längst in der Lage wart,
Gutes und Edles in hinreichender Zahl zu erzeugen, das habe ich nie
verstanden.«

Er sah mich mit großen, fragenden Augen an. Aber ich war viel zu
neugierig, etwas über seine Zeit zu erfahren, als dass ich Lust
gehabt hätte, ihm unsere zu erklären. »Wie seid ihr politisch
organisiert?«, bohrte ich, »Wer trifft die gesellschaftlichen
Entscheidungen?« - »Diejenigen, die sie betreffen. Alle kleineren
Sachen werden vor Ort geregelt, kommunal. In Berlin gab es kürzlich
eine größere Debatte, ob wir ein neues Werk für elektronische
Gebrauchsgüter oder lieber ein schöneres Theater bauen. Ich gehörte
zu den Theaterbefürwortern. In einer langen Diskussion wurde das
Für und Wider erwogen. Beim Entscheid der Stadtbevölkerung hat
unsere Position dann die Mehrheit gewonnen.« Er lächelte zufrieden.

»Regelt ihr alles über Plebiszite?«, wollte ich wissen. »Nein, das
wäre doch zu umständlich«, erklärte er. »Es gibt natürlich auf allen
Ebenen auch gewählte Vertretungen.« - »Und Parteien?«, fragte ich.
»So etwas Ähnliches«, erläuterte er. »Für konkrete Programme und
Projekte bilden sich Vereinigungen, die mit ihren Konzepten
konkurrieren. Über Wahlen wird dann der mehrheitlich gewünschte
Trend ermittelt.« - »Also eine Art Parlamentarismus?« - »Wir nennen
es so nicht. Die Menschen, die bei uns in den Kammern sitzen,
bleiben dort maximal acht Jahre. Sie sind nicht das, was man bei
Ihnen Berufspolitiker nennt, sondern normale Leute aus allen
Berufen, in die sie dann auch zurückkehren. Auch die Vereinigungen
verändern sich bei uns viel öfter: lösen sich auf, bilden sich neu.
Neben den gewählten Kammern gibt es übrigens Räte der Alten und
Weisen. In sie werden - auf Lebenszeit - angesehene Senioren
gewählt: herausragende Wissenschaftler, Dichter, bedeutende
Erfinder. Sie haben nur beratende Funktion, aber ihr Rat wiegt
schwer.«

Wir schwiegen. Ihm zu folgen fiel mir zwar leicht, aber er forderte
mich ganz schön. Er nahm den Gesprächsfaden wieder auf: »Vor
allem unterscheidet sich unser System von eurem dadurch, dass
unsere Kammern tatsächliche Macht haben: Sie sind befugt, alle für
ihren Kompetenzbereich relevanten Entscheidungen zu fällen.« -
»Also auch wirtschaftliche Entscheidungen?«, hakte ich nach. - »Ja,
sicher. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen betreffen doch die
Bevölkerung. Grundsatzfragen müssen überdies im Volksentscheid
bestätigt werden. Ökonomische Detailfragen werden natürlich von
den Beschäftigten in den Betrieben entschieden.« - »Nach welchen
Kriterien?«, wollte ich wissen. - »Danach, was die Verbraucher haben
wollen. Bei vielen langlebigen Gütern läuft es ähnlich wie bei den
Häusern: Man bestellt nicht einfach irgendwelche produzierten
Sachen, sondern gestaltet sie nach eigenen Wünschen, bevor sie
produziert werden. Kein Betrieb hat deshalb mehr ein Interesse
daran, den Leuten irgendwelche Moden aufzuschwatzen.«

»Kann jeder so viel bestellen, wie er will?«, möchte ich wissen. Er
lacht. »Nein, das Schlaraffenland haben wir nun noch nicht. Der
individuelle Zugriff ist schon durch Geld limitiert. Aber wir haben so
viel zu verteilen, dass jeder reichlich bekommt. Auch deshalb, weil
wir all den anderen Unsinn, den Ihre Zeit mit Geld anstellt, rigoros
abgeschafft haben.« - »Wie meinen Sie das?«, fragte ich, obwohl ich
ahnte, worauf er hinauswollte. »Wissen Sie«, antwortete er, »ich war
in London, New York und Frankfurt und habe mir Ihre Glücksritter bei
der Arbeit angesehen.« Seine Stimme bekam einen angewiderten
Beiklang. »Es gibt ja bei uns auch noch ein paar Spielhäuser«,
räumte er ein. »Sie sind nicht sehr angesehen, aber ihre Schließung
hat doch nie eine Mehrheit gefunden. Also blieben sie stehen, und
wer will, kann hingehen. Wahrscheinlich hat es Glücksspiel immer
gegeben. Aber dass eine Gesellschaft die wichtigsten
Entscheidungen ihres ökonomischen Lebens nach den obskuren
Vorgaben eines Spielkasinos fällt, dass sie technische Anlagen
stilllegt oder weiterbetreibt, Menschen in Arbeit bringt oder auf die
Straße wirft, Erfindungen umsetzt oder in den Schubladen belässt,
alles abhängig davon, ob die lächerliche Roulettekugel der
Kurstabellen 'hoch' oder 'niedrig', 'steigend' oder 'fallend' anzeigt, das
war es, was ich mit eigenen Augen sehen wollte, weil ich es nicht
glauben konnte ...«

Während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, fuhr er
unerbittlich fort: »Ich finde, was am meisten gegen eure Zeit spricht,
ist ihre Verlogenheit. Sie schmückt sich mit schönen Titeln, die sie
alle nicht verdient. Sie nennt sich frei, aber selten waren Menschen
enger in unbarmherzige Zwänge eingeschnürt. Sie preist die
Individualität - und produziert Uniformität ohne Ende. Sie nennt sich
eine Überflussgesellschaft, was allenfalls insofern stimmt, als sie viel
Überflüssiges produziert. Aber sie produziert nicht zu viel, sondern zu
wenig wirklichen Reichtum. Das ist mir überhaupt aufgefallen, es ist
wahrscheinlich nie in der Geschichte so viel produziert und so wenig
genossen worden wie zu Ihrer Zeit. Die Leute haben verlernt zu
genießen. Wie kann man in Lokalen ohne jeden Charme
Chemienahrung aus Wegwerfbechern essen?«

Er meinte McDonald's, nahm ich an. Ich ließ ihn weiterreden. Er
schaute an sich herunter. »Ich habe abgenommen, seit ich hier bin.
Es ist so schwer, gutes Essen zu finden. Sicher haben sie auch
erstklassige Restaurants. Aber sie verschwinden in einem Meer von
schlechten.« - »Wie und was isst man denn bei Ihnen so?«, fragte
ich interessiert. »Köche sind bei uns einer der geachtetsten und
bestbezahlten Berufsstände«, erklärte er mir. »Man hat eingesehen,
dass Kochen ebenso Profession ist wie das Erstellen von
Computersoftware. Also überlassen wir es weitgehend den
Fachleuten. Wir finanzieren unseren Köchen eine gute Ausbildung.
Die Regeln, die erfüllt sein müssen, ehe einer seine Gerichte
öffentlich anbieten darf, sind streng. Schlechtes Essen würden die
Leute bei uns nicht durchgehen lassen. Ich glaube«, sagte er nach
kurzer Überlegung, »die Essgewohnheiten eines Jahrhunderts sagen
einiges über seinen Charakter aus. Bei euch ist der Begriff des
Genusses auch sprachlich weitgehend verschwunden. Allenfalls
wünscht ihr euch gegenseitig Spaß. Aber Spaß ist viel
oberflächlicher als Genuss. Zumal ich den Eindruck habe, dass
Konsumieren für die meisten nicht einmal mehr Spaß bedeutet,
sondern Stress. Man kauft nicht, weil man die Dinge braucht oder
Gefallen daran findet. Allein seit dieser neurotische Kaufzwang
wegfiel, hatten wir plötzlich unglaublich viel Zeit und Ressourcen für
die wichtigen Dinge frei.

Apropos Zeit ...« Er schaute auf die Uhr. »Oh Gott, ich muss mich
für die Rückkehr fertig machen. Heute war mein letzter Abend bei
euch.« - »Darf ich eine letzte Frage stellen?«, bat ich ihn. Er nickte
freundlich. »Welche Fragen würden Sie der Generation stellen, die
heute zwischen 20 und 40 Jahre alt ist?« Er dachte kurz nach. Dann
antwortete er: »Warum verschließt ihr euch Veränderungen, die auf
der Hand liegen? Warum gebt ihr wenigen Leuten die Macht, die
Lebensqualität vieler zu bestimmen und oft genug zu zerstören?
Warum produziert ihr mit euren enormen technologischen
Möglichkeiten so unvorstellbar viel Schrott, und warum duldet ihr
nach wie vor so grauenvolle Armut? Wieso gestaltet ihr euer Leben
so abstrus, so irrational, so oberflächlich, wo ihr doch wisst, dass ihr
nur einmal lebt?«




DIE ZEIT Nr. 41 5. Oktober 2000

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